U. Maurer: Hungerland. Armut und wirtschaftliche Not im Ruedertal um 1850

Cover
Titel
Hungerland. Armut und wirtschaftliche Not im Ruedertal um 1850


Autor(en)
Maurer, Ursula
Reihe
Beiträge zur Aargauer Geschichte
Erschienen
Baden 2019: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
160 S.
Preis
€ 39,00; CHF 39,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sandra Ujpetery, Faculty of History, University of Cambridge

Hunger sieht immer und überall ziemlich gleich aus, wie die Historikerin Megan Vaughan bemerkte1 – ob im von ihr untersuchten Malawi bzw. Nyasaland 1949, im heutigen Jemen oder eben im Ruedertal im Schweizer Kanton Aargau in den 1850er-Jahren. Unterschiedlich sind jedoch die Gründe, die zu Hunger führen, die Rahmenbedingungen, unter denen die Hungernden ihre Lage zu bewältigen versuchen, und wie Andere, Nicht-Hungernde allenfalls auf ihre Not reagieren. Ursula Maurer zeichnet dank einer ergiebigen Quellenlage ein vielschichtiges Panorama des Hungers im Ruedertal um 1850, wenn auch ohne Einordnung in den Stand der Hungerforschung und ohne Vergleiche mit anderen Regionen oder Zeiträumen, die gerade diese Besonderheiten und Gemeinsamkeiten verdeutlichen würden.

Dabei erkundet die Autorin vielversprechendes Neuland für die Hungerforschung, hat diese doch die Zeit nach 1850 im deutschsprachigen Raum bislang kaum in den Blick genommen, mit Ausnahme der seltsam isoliert dastehenden beiden Weltkriege. Die „Kartoffelkrise“ der 1840er-Jahre bildet in der Regel immer noch den Endpunkt der Betrachtung von Hunger in Friedenszeiten in West- und Mitteleuropa2; erst vereinzelt ist näher ergründet worden, dass Not und Hunger vielerorts auch nach den „Hungry Forties“ anhielten oder erneut auftraten3 und dass Hunger nie auf „Hungerjahre“ beschränkt gewesen ist.

Die Quellenlage zum Ruedertal ist vorteilhaft, da der Kanton nach eindringlichen Elendsbeschreibungen und Berichten über Hungertodesfälle 1854 eine „Kommission zur Hebung [=Behebung] der Armennot im Ruedertal“ (Ruedertalkommission) einsetzte und die Gemeinden im Tal überdies aufgrund ihrer zerrütteten Finanzen 1853–1862 unter kantonaler Administration standen. Maurer gelingt es, anhand dieser Quellen die Schicksale einiger der vom Hunger Betroffenen zumindest ansatzweise fassbar zu machen, wobei selbst diese ungewöhnlich detaillierten Einblicke in die Einzelschicksale von Hungernden notgedrungen auf Momentaufnahmen beschränkt bleiben und aus der Perspektive der Behörden – die die Autorin kritisch reflektiert – überliefert sind. Einiges ausführlicher, und aufschlussreich für das Verständnis der Quellen, kann Maurer denn auch das Leben, Denken und Handeln von nicht-hungernden Akteur/innen nachzeichnen. Dem engagierten Amtsstatthalter und Kleinfabrikanten Rudolf Hintermann, der von seinen Begegnungen mit hungernden Weberfamilien erschüttert war und die Gemeinden und den Kanton zu ausreichenden Hilfsmaßnahmen zu bewegen versuchte, begegnete da beispielsweise der Pfarrer Johann Georg Welti, der zu den meisten Hungernden – und auch anderen Personen –, die er erwähnte, „gallige“ Bemerkungen anzubringen pflegte. Er sah nichts Schockierendes darin, wenn die Armen im Frühling Wildkräuter zum Essen suchen mussten, auch weil seinen moralischen Maßstäben ohnehin nur wenige der Hungernden genügen konnten – jene, „die noch arbeiten, leiden und dulden, ohne die ganze Welt mit Klagegeschrei zu erfüllen“ (S. 63). Kein Verständnis hatte der gestrenge Geistliche für gängige Überlebensstrategien der Darbenden, zu denen nun einmal häufig auch das Betteln in anderen Gegenden des Aargaus und in einigen Fällen gar in Basel gehörte. Selbst den „Untergang“ einer in seinen Augen liederlichen Familie erachtete Welti für gottgewollt (S. 67).

Diese Denkweise, wonach vor allem – oder sogar ausschließlich – jene Armen unterstützungswürdig sind, die gerade eben keine Hilfe suchen, ist aus weiten Teilen Europas vom Spätmittelalter bis weit in das 19. Jahrhundert hinein vertraut. Auch andere Eindrücke aus dem Aargauer „Hungerland“ der 1850er-Jahre bestätigen Befunde aus anderen Hungersituationen – von der Tatsache, dass die wenigsten Hungernden im engen Sinne verhungern, da der Hungertod meistens „in verkappter Gestalt“ durch Krankheiten eintritt (S. 14), bis hin zum Umstand, dass Landarbeiter ohne eigenen Landbesitz zu den Allerärmsten und während einer Krise Verletzlichsten gehören.

Auch ohne auf Amartya Sens für die Hungerforschung prägenden Entitlement-Ansatz Bezug zu nehmen, bestätigt Maurer zudem dessen Kernaussage, dass Armut infolge unzureichender Löhne oder Arbeitslosigkeit genauso zu Hunger führen kann wie schlechte Ernten und eigentliche Nahrungsmittelknappheit: Es spielte zweifellos eine Rolle, dass die Kartoffelernten auch Anfang der 1850er-Jahre nicht recht geraten wollten und dass mehrere Unwetter das Ruedertal heimsuchten. Zudem trugen Turbulenzen an den internationalen Getreidemärkten im Zusammenhang mit dem Krimkrieg zu einem Anstieg der Nahrungsmittelpreise bei. Aber in den meisten Teilen des Kantons Aargau führten diese Probleme allein nicht mehr zu Hunger. Das im ärmsten Bezirk des Kantons gelegene Ruedertal wurde zum Hungergebiet, weil die wichtigsten Einkommensquellen, die Baumwoll-Handweberei und Landarbeit, höchstens noch buchstäbliche Hungerlöhne abwarfen. Die erst 1851 eingeführte Strohflechterei, von der man sich neuen Verdienst erhoffte, brachte nie mehr als klägliche Einkünfte – wie in etlichen anderen Regionen, wo sie ebenfalls gerade in Notzeiten gerne als neue Erwerbsmöglichkeit propagiert wurde.4

Bekannt ist, dass auch in Regionen wie dem Zürcher Oberland die missratenen Kartoffelernten in den 1840er-Jahren verhängnisvoll mit einer Verschlechterung der Lage der Baumwollweber zusammenfielen.5 In der Schweizer Historiographie wurden diese Problemlagen indes von Sonderbundskrieg und Bundesstaatsgründung 1847/48 überschattet, und für die Zeit nach 1850 hat Ursula Maurer den ersten themenspezifischen Beitrag über Hunger vorgelegt. Sie vermittelt somit erste Eindrücke davon, wie im „jungen Bundesstaat“ eben nicht mehr jede Gegend selbstverständlich „Hungerland“ war. Hunger scheint vielmehr – zumindest im Aargau – bereits zur Ausnahme geworden zu sein, ungewöhnlich genug, als dass hungergeschwächte Menschen zur Pflege ins Kantonsspital Königsfelden gebracht wurden, um allerdings nach einigen Monaten erneut „elendig abgemagert“ und zu schwach zur Arbeit zu sein, da sich an ihren Einkommensverhältnissen nichts verbessert hatte (S. 13). Ein Ausmaß von Entbehrung, das lokal noch von manchen – wie Pfarrer Welti – als gewöhnlich empfunden wurde, bedeutete woanders im selben Kanton bereits Handlungsbedarf. Hunger und Armut scheinen denn auch vermehrt als Restprobleme wahrgenommen worden zu sein, die sich in bestimmten Regionen (angeblich) besonders hartnäckig hielten. Neben dem Ruedertal war Schwarzenburg im Kanton Bern ein bekanntes solches „notleidendes“ Gebiet – es dürfte kein Zufall sein, dass der erste Bericht der Ruedertalkommission 1856 gerade dorthin ausgeliehen wurde (wobei er verloren ging, sodass nur eine Zusammenfassung der anfänglichen Bestandesaufnahme der Kommission überliefert ist; S. 22).

Die Bebilderung mit zahlreichen historischen Fotografien von Gebäuden und Ortsbildern größtenteils aus dem frühen 20. Jahrhundert dürfte dem baugeschichtlichen Hintergrund der Autorin zuzuschreiben sein, die auch Architekturhistorikerin ist und bei der Berner Denkmalpflege tätig war, und stellt einen ungewöhnlichen Ansatz zur schwierigen Illustration dieser Thematik dar.

Erstaunlich bleibt, dass die Autorin die Mechanisierung der Weberei nur beiläufig erwähnt. Während die Baumwoll-Handweber in Großbritannien schon seit Mitte der 1820er-Jahre weitgehend durch mechanische Webstühle verdrängt worden waren6, hielt sich die Heimarbeit am Handwebstuhl in weiten Teilen Kontinentaleuropas etliche Jahrzehnte länger, allerdings bei sehr tiefen Löhnen.7 Gerade letztere trugen dazu bei, dass die Heimarbeit aus Sicht der Textilunternehmer lukrativ blieb – oder ermöglichten es ihnen vielleicht überhaupt, mit der maschinellen Konkurrenz mitzuhalten. So konnte etwa der Fabrikant Hermann Hunziker, der unter anderem im Ruedertal Weber beschäftigte, offenbar nicht zuletzt wegen seiner niedrigen Lohnkosten mit seinen handgewobenen Waren gute Geschäfte im britischen Markt machen (S. 38–40). Inwiefern hätte es dennoch Spielraum für bessere Löhne gegeben? Hätte eine frühere Umstellung auf Webmaschinen – die im Ruedertal freilich am Fehlen von Wasserkraft gescheitert wäre, wie Maurer bemerkt – den Webern bessere Verhältnisse bringen können? Eine länderübergreifende Betrachtung des ungleichzeitig verlaufenden, aber transnational folgenreichen Niedergangs der Handweberei steht noch aus.

Weitere Fragen drängen sich zur Hungergeschichte des Ruedertals vor den 1840ern auf, namentlich 1816/17: Bestätigt sich, dass das Tal schon damals zu den besonders betroffenen Teilen des insgesamt relativ glimpflich davongekommenen Aargaus gehörte?8 War und blieb die Region auch in den 1820er und 1830er-Jahren arm, oder wechselten sich Phasen von Aufschwung und Verarmung ab? Die Geschichte des Hungers zu einer Zeit, als seine Selbstverständlichkeit schwand, bleibt noch sehr viel ausführlicher zu erforschen. Vielleicht ohne sich der diesbezüglichen Tragweite ihrer Befunde bewusst zu sein, hat Ursula Maurer zu diesem Unterfangen einen Grundstein gelegt.

Anmerkungen:
1 Megan Vaughan, The Story of an African Famine, Cambridge 1986, S. 1f. („the brutal fact is that starving people look much the same everywhere and at all times“).
2 Guido Alfani / Cormac Ó Gráda (Hrsg.), Famine in European History, Cambridge 2017.
3 Zu den 1850ern vgl. Wouter Ronsijn / Eric Vanhaute, From the Hungry 1840s to the Dear 1850s: the Case of Belgium's Food Price Crisis, 1853–56, in: Agricultural History Review 66 (2018), 2, S. 238–260; als Quellenbeispiel siehe auch Rudolf Virchow, Die Noth im Spessart, Würzburg 1852. Als einige der wenigen weiteren Untersuchungen zu Mittel- und Westeuropa nach 1850 vgl. Albrecht Hoppe, Der Notstand von 1867/68 in Ostpreußen als Forschungsproblem, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 61 (2015), 1, S. 169–200; Virginia Crossman, Politics, Pauperism and Power in Late Nineteenth-Century Ireland, Manchester 2006, Kapitel 4.
4 Vgl. Ulrich Troitzsch, Staatliche Bemühungen um die Einführung der Strohflechterei in Kurhessen in der Mitte des 19. Jahrhunderts – ein Beispiel verfehlter Nebenerwerbsförderung, in: Hermann Kellenbenz (Hrsg.), Agrarisches Nebengewerbe und Formen der Reagrarisierung im Spätmittelalter und 19./20. Jahrhundert, Stuttgart 1975, S. 141–154.
5 Martin Salzmann, Die Wirtschaftskrise im Kanton Zürich 1845 bis 1848. Ihre Stellung im Rahmen der wirtschaftlich-sozialen Entwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Bern 1978; vgl. auch Rudolf Braun, Sozialer und kultureller Wandel in einem ländlichen Industriegebiet (Zürcher Oberland) unter Einwirkung des Maschinen- und Fabrikwesens, Erlenbach 1965, S. 33.
6 Vgl. Duncan Bythell, The Handloom Weavers. A Study in the English Cotton Industry during the Industrial Revolution, Cambridge 1969.
7 Vgl. etwa Karin Zachmann, Die Durchsetzung des kapitalistischen Fabriksystems in der deutschen Textilindustrie des 19. Jahrhunderts aus der Sicht der Verdrängung vorindustrieller Produktionsformen, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 3 (1991), S. 31–52.
8 Vgl. entsprechende Hinweise bei Daniel Krämer, „Menschen grasten nun mit dem Vieh“. Die letzte große Hungerkrise der Schweiz 1816/17, Basel 2015, S. 405f.; Peter Scheitlin, Meine Armenreisen, St. Gallen 1820, S. 390. Auch die in den 1850ern weiterhin gültige „Verordnung wider den Bettel“ (S. 60) war wohl kaum zufällig 1817 erlassen worden.

Redaktion
Veröffentlicht am
17.03.2020
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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